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"Reise zu mir" - ein Text von Monika Gantner
Bei der Feier „25 Jahre Beratungsstelle“ der Krebshilfe verlas Monika Gantner als Betroffene einen Text, den sie zur Bewältigung ihrer Krankheitsgeschichte geschrieben hat.
Ich freue mich sehr, wenn meine Geschichte Menschen mit einem schweren Weg ein wenig berühren kann. Ich hoffe, dass man spüren kann, dass alles im Leben auch eine gute Seite hat.
Monika Gantner
Unter dem Titel „Reise zu MIR“, handelt der Text von einer Frau, die „ausgestiegen aus dem Schnellzug von A nach B, auf einen Zug wartet, nach „Irgendwo“ – Ankunft „Irgendwann“.
Im Lauf der Reise, wird der Frau bewusst, dass sie sich selbst bei einer Reise über die Schulter schaut, die sie sich weder ausgesucht, noch gewünscht hat und doch…
Reise zu MIR
Hier stehe ich nun - am Bahnsteig. Ich bin ausgestiegen aus dem Schnellzug von A nach B. Ich warte auf den „Zug nach Irgendwo“ – Ankunft- irgendwann… Ich habe nur leichtes Gepäck dabei – dort wo ich hin muss, braucht man nichts Schweres. Der ältere Zug fährt gemächlich ein. Die Türen öffnen sich, ich steige unsicher ein, suche mein Abteil. Über einer Türe steht mein Name und mein Geburtsdatum – überrascht betrete ich das Abteil. Ich setze mich, stelle meine Tasche ab und schau mich um. Es sitzt noch jemand in diesem Abteil – komisch. Das habe ich gar nicht bemerkt. Die Frau mir gegenüber hat die Augen geschlossen und den Kopf zur Seite gelegt. Wahrscheinlich schläft sie, denke ich mir.
Ich schaue mich ein bisschen um während der Zug sich in Bewegung setzt. Die Innenausstattung ist alles andere als neu – fast schon nostalgisch – aber dafür sind die Sitzbänke sehr bequem. Man kann gut erkennen, dass schon viele Passagiere mit diesem Zug auf Reisen waren. Wenn ich es recht betrachte ist mir diese Art von Zug wesentlich lieber, als die neuen, sterilen, unpersönlichen Schnellzüge in denen man nur auf die Zeit schaut und nichts anderes im Kopf hat, als schnell von A nach B zu kommen
Langsam fahren wir aus dem Bahnhof und ich bemerke wie ein Schnellzug nach dem anderen an meinem Zug in unglaublicher Geschwindigkeit vorbeigleitet. Eigenartigerweise ist mir das völlig egal – ich genieße die Langsamkeit und betrachte die Welt da draußen, die in ihrer Vielfalt ebenfalls an mir vorbeizieht. Städte, Dörfer, Wiesen, Felder, Bäume, Himmel, Wolken- alles kann ich in ungewöhnlicher Schärfe erkennen.
Ich ahne, dass ich von diesem Zeitpunkt an viel Zeit für mich haben werde. Diese Sonderfahrt, die gar nicht in meine geplante Reiseroute passt wird mir einfach verordnet. Ich fühle mich nicht wohl dabei, dass ich diese Extratour nicht ablehnen kann. Also gut – denke ich mir – komme was wolle!!
Die Frau mir gegenüber hebt den Kopf. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor. Sie scheint keine Notiz von mir zu nehmen. Traurig und müde wirkt sie auf mich. Sie schaut ebenfalls zum Fenster hinaus. Tränen glitzern in ihren Augen. Ich erinnere mich, dass jemand einmal sagte – Tränen sind die Perlen der Seele. Ob wohl das Schicksal etwas damit zu hat, frage ich mich. Die Frau steht auf geht zum Fenster, schaut in die Welt hinaus. Ihr Atem legt sich als leisen Hauch auf die Scheibe. Ganz langsam hebt sie ihre Hand und schreibt das Wort KREBS auf das Fensterglas. Sie liest das Wort laut vor und ich sehe ihr an, wie bestürzt sie dieses Wort betrachtet. Sie setzt sich wieder und nimmt einen Arztbefund, den sie aus der Tasche holt in ihre Hand. Lange schaut sie darauf – Wie selbstverständlich kann ich jedes Detail in diesem Brief mitlesen. Sie haben Krebs! Sie brauchen eine Chemo- und eine Strahlentherapie!!! Ihr Risiko dieser heimtückischen Krankheit zu unterliegen ist enorm hoch, steht da deutlich und unübersehbar. Ihre Chance, dieser Krankheit ein Schnippchen zu schlagen, ist nicht sehr hoch und Garantien gibt es sowieso keine. Ärztekommentar: 20% können wir ihnen helfen – 80% müssen sie beisteuern. Aber machen sie sich keine Sorgen, das schaffen sie schon!! Schließlich haben sie die große Operation auch wunderbar bewältigt. BRAVO. Jetzt schalten wir den Energieknopf einfach einmal von ON auf OFF und danach sind sie wieder ganz ok. Alles EASY - alles kein Problem – dafür gibt es ja die Psychologen, die dann schon ein adäquates Pülverchen bereit haben.
Genau denselben Befund habe ich ja auch bekommen. Bestürzt erkenne ich, dass aus welchen Gründen auch immer, ich mir selber gegenüber sitze. Ich beobachte mich – betrachte mich – erkenne mich – wie im Spiegel - und doch empfinde ich nichts. Bin das da wirklich ICH? Habe ich diese Krankheit, die ich für mich niemals in Erwägung gezogen habe? Bin ICH das, die da sitzt und in Hoffnungslosigkeit, Wut und Selbstmitleid versinkt? Bin ICH das, die plötzlich ihren Lebensplan verwerfen muss und nicht mehr selbst bestimmen kann wohin die Reise geht? O mein Gott – fällt mir da ein – wo bin ich falsch abgebogen wo habe ich etwas übersehen – was ist mir entgangen – habe ich MICH vergessen???
Mir wird ganz eng in meiner Brust – ich sitze in diesem Abteil und spüre, dass ich nicht so schnell wieder aussteigen kann. Meine Gedanken kehren zurück in meine Kindheit. Meine Oma meine Eltern und Geschwister tauchen auf in Bildern – mal schöne mal tief vergrabene Erinnerungen steigen auf. Vergangenheit – alles vorbei, vergeben und vergessen - denke ich. Mein Spiegelbildgegenüber steht wieder auf, setzt sich die Perücke auf (ich hatte gar nicht bemerkt, dass die Frau keine Haare, Wimpern und Augenbrauen hat) Sie muss sich stützen, ihr Körper ist sehr schwach und mitgenommen . Sie lächelt und irgendwie ist sie zufrieden mit sich und strahlt eine besondere Ruhe aus. Auch ich fühle mich unglaublich ruhig und bei mir angekommen – in meiner Mitte. Wir stehen beide am Fenster. Der Zug wird immer langsamer und langsamer. Wir öffnen gemeinsam das Fenster und schauen in Fahrtrichtung. Ein kleiner Bahnhof kommt in Sicht. Menschen stehen dort. Ganz langsam rollt der alte Zug auf dem „Gleis nach Irgendwo“ um punkt „irgendwann in den „Bahnhof Leben“ ein. Der Wind spielt in unseren Perückenhaaren und die Sonne wärmt unsere bleichen Gesichter – wir halten uns an den Händen und die Freude über das Ziel unserer Reise ist über groß. Tränen – nein Perlen der Dankbarkeit kullern über unsere Wangen und wir sind wieder ein Team.
Die Menschen am Bahnsteig winken uns zu. Ich kann die ersten erkennen – meine Familie - meine wahren Freunde, die mich immer wieder zum Weitermachen und nicht Aufgeben motiviert haben. Menschen, die ich liebe und zu meiner Überraschung auch solche die ich nicht unbedingt mag – ich habe ja gelernt in dieser Zeit der Herausforderung, dass auch sie wichtig sind für mein Vorwärtskommen, deshalb freue ich mich auch sie zu sehen. Alle sind sie gekommen um mich wieder in ihre Mitte zu nehmen.
Fassungslos über die Ankunft in meinem neuen Leben nehme ich mein leichtes Handgepäck und fühle mich wie ein Marathonläufer im Ziel. Ich bin stolz auf mich - dankbar für die Lektion, die das Leben für mich bereitgehalten hat. Dankbar für die Auszeit mit mir, das eingestehen, dass ICH der wichtigste Mensch in meinem Leben bin und ich nur für MEIN Leben verantwortlich bin.
Ganz zart spüre ich eine Hand auf meiner Schulter – ich weiß DU bist da mein Schutzengel – ganz nah bei mir– ich war nie allein und werde es auch nie sein. Noch einmal betrachte ich mein Spiegelbild. Ich weiß es wird noch Zeit brauchen, bis ich wieder mit meinem Aussehen versöhnt bin. Aber das Glitzern in meinen Augen sind keine Tränen - sondern pure Lebensfreude.
Gott sei Dank!!!